zeit : zonen          Angela Piplak

GaDeWe, Bremen (2015)

 

Die Arbeiten von Michael Lukas im Kabinett der GaDeWe bilden ein Koordinatensystem mit Bezügen, Querverweisen und Zufälligkeiten, das durch die Größe des Raums, seiner Vorsprünge, Nischen, Öffnungen und Wandstrukturen bestimmt wird. Der Faktor Zeit ist in diesem Raum eine variable Größe, die von individuellen, qualitativen, aber auch von historischen Bedingungen abhängt. Zeit kann ganz physikalisch verstanden den Ablauf eines Geschehens in unumkehrbarer Richtung bedeuten. Zeit kann der Blick in die Vergangenheit wie in die Zukunft sein oder durch die Dauer einer Tätigkeit bestimmt werden, aber sie kann auch durch die Intensität eines gefühlten Augenblicks sprichwörtlich ewig oder viel zu kurz erscheinen.

Der klassizistische Tempel in der Mitte des kleinen Kabinetts erinnert zunächst an ein Denkmal. Der Faktor Zeit begegnet uns in diesem Kontext als geschichtlicher Blick. Der Tempel ist ein im Maßstab 1:33 hergestelltes Modell des Luisentempels auf der Berliner Pfaueninsel. Statt im klassizistischem Weiß des Originals ist das Modell des Tempels schwarz gehalten und aus fein geschliffenem Acrylglas hergestellt, dessen scheinbar raue Oberfläche ein wenig an Dachpappe erinnert. Das matte Schwarz der Oberflächen taucht das Innere des Monuments ins Dunkel und verhindert so konsequent den Blick auf das, dessen ursprünglich im Tempel gedacht wurde. Der Blick ins Dunkle könnte so auf die geschichtliche Leerstelle verweisen, die Königin Luise vielleicht für das Gros der Besucher der Insel darstellt. Oder wird das Schwarz hier zum künstlerischen damnatio memoriae der preußischen Königin Luise, deren Tempel auf der Pfaueninsel für viele Jahre an der Grenze zur DDR lag, zwischenzeitlich als Bauplatz für ein AKW im Gespräch war und erst nach der Wiedervereinigung im Zuge der Hauptstadtpläne zu neuem Leben erwachte?

Ein halbrunder Stein, mit durchsichtigem Klebeband von innen am Galeriefenster befestigt, gibt einen Hinweis auf präziseste Zeiterfassung und somit auf einen streng physikalischen Zeitbegriff. Erst ein Blick von außerhalb der Galerie lüftete das Geheimnis des Steins und seinen Bezug zur Zeitmessung.

Kartenwerke sind ein häufig wiederkehrender Schwerpunkt in der Arbeit von Michael Lukas. Karten folgten schon immer Nützlichkeitserwägungen und unterschiedlichen Motivationen. Neben ihrer grundsätzlichen Funktion, der Orientierung, dienten sie auch immer der Festlegung von Herrschaftsgebieten und Herrschaftsansprüchen, markierten natürliche oder politische Grenzen. Karten spiegeln aber auch das jeweilige Wissen ihrer Zeit wider. Karten sind außerdem per se falsch, da sie immer nur einen Teil des Ganzen zeigen und in der notwendigen Verkleinerung vieles verloren geht oder der Abstraktion zum Opfer fällt. Karten sind darüber hinaus, und hier kommt der zeitliche Faktor ins Spiel, bereits im Moment ihres Erscheinens veraltet, da Länder sich auflösen, neue Reiche entstehen und die festgehaltene Landschaft sich ständig weiterentwickelt und verändert. Die mit Kabelbindern zusammengefügten Bilderrahmen erinnern genau an diesen Aspekt einer sich rasant verändernden Welt, indem verschiedene „Karten-Ausschnitte“, also Rahmen, aneinander und übereinandergelegt und mit einer schnell wieder lösbaren Verbindung zusammengefügt werden.

Viele mittelalterliche Kartenwerke stellten das jeweilige religiöse Zentrum in den Mittelpunkt eines großen Weltkreises. Um das heilige Jerusalem fand sich mit Europa, Asien und Afrika die damals bekannte Welt gruppiert, umgeben von einem größeren Kreis des Weltmeeres, welches das Ende der bewohnbaren Welt begrenzte. Die auf die Wand des Kabinetts gezeichnete Arbeit erinnert auf den ersten Blick an solche Karten. Ein zentraler Kontinent findet sich im Mittelpunkt, um ihn herum sind weitere Kontinente oder Inseln gruppiert. Am Rand deuten große, dunkle Flächen das Meer an, welches das Erdrund begrenzt. Sofort beginnt das Auge zu suchen, um Bekanntes zu entdecken: Europa? Australien? Oder ist es der Urkontinent Pangaea? In diesem Fall trifft keines davon zu, stattdessen greift Michael Lukas hier den Aspekt der verrinnenden Zeit auf und macht ihn auf leise poetische Art sichtbar. Die Zeichnung wurde aus einer durchgehenden Linie gefertigt und umfährt sorgsam jede Erhebung der Raufasertapete oder Spuren alter Spachtelarbeiten auf der Wand, bis sich die Linie am Ausgangspunkt wieder mit sich selbst trifft.

Während Kartenwerken grundsätzlich eine Horizontlinie fehlt, ist im Kabinett eine solche künstlich hinzugefügt worden, die die einzelnen Arbeiten zu einer zusammenhängenden Rauminstallation verbindet. Auch in der aktuellsten Arbeit von Michael Lukas ist die Horizontlinie zentrales Element, und auch wieder synonym für verstreichende Zeit. Die Idee zu dieser Arbeit entstand auf einer Zugfahrt von München nach Bremen, auf der der fast endlos vorbeiziehende Horizont sein Interesse erweckte. Er nahm die vorbeirauschende Landschaft mit der Digitalkamera auf und ließ die Bilder ohne weitere Bearbeitung ausdrucken. Aus diesem Ergebnis entstand eine seltsam fragmentierte, langgezogene Landschaftsaufnahme. Da die hochauflösende Digitalkamera die Geschwindigkeit des Zuges nicht vollständig ausgleichen konnte, ergänzte das Programm der Kamera selbständig die im Bild entstandenen Leerstellen. Im Ergebnis wurden so weiter entfernte Objekte zu einer Linie verbunden und ergaben einen vollständigen Horizont, während die Dinge im Vordergrund zerstückelt und fragmentiert wiedergegeben wurden.

1 Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, London 1687