Die Macht der Ambivalenz          Dr. Eva Karcher

Akademie der Bildenden Künste, München (1986)

 

Nicht nur Goethe, Schiller und Gerhart Hauptmann besungen und bedichteten „ihre“ Glocke. Jedes Kind, begegnet es unversehens dem ehernen bauchigen Gefäß, – was spätestens im Heimatkundeunterricht beim Besteigen des dörflichen oder städtischen Kirchturms geschieht, – ist bezaubert und fasziniert von der Größe, der Anmut der Form, der pendelnden Schwingbewegung des gewölbten Hohlkörpers. Archaisch-kultisches Instrument, begleitet die Glocke menschliches Dasein auf dem Weg vom Leben zum Tod, „leiht“, wie es Schiller beschreibt, „dem Schicksal die Zunge“. Im Jahr 1985 begab sich eine Gruppe an der Münchner Akademie der bildenden Künste unter Leitung von Daniel Spoerri auf die Spuren von Brauchtum und Ritual. Michael Lukas entwarf damals sein „Bild“ von der Glocke und er bestimmte die Verhältnisse von Außen und Innen, von Hülle oder Mantel und Kern neu. Seine Skulptur macht das Wesen der Glocke, Klang zu sein, räumlich transparent. Zur fragilen Silhouette aus geschwungenen Eisenstäben vereinfacht, wurzelt sie gewissenmaßen in der stabilen Basis eines massiven Stahlrings und mündet in ihrem Scheitel in einen ebensolchen, von kleinerem Durchmesser ein. Sie lagert auf dem Boden und scheint dennoch in Schwingung versetzt, eben aufgrund ihrer Durchlässigkeit für ihre je spezifisch strukturierte Umgebung. Diese Wirkung steigert sich erstaunlicherweise noch durch den Holz-„Klöppel“, den sie umschließt, von Lukas in konsequenter Umkehrung der „Massen“ als rohes, unregelmäßig geformtes plankenartiges Fundstück gewählt. Die Gewichte haben sich proportional umgestülpt: Innen wurde zu Außen und Außen zu Innen. Die Glocke wird unversehens anschaulich gegenwärtig als Symbol der Ambivalenz menschlicher Existenz im Spannungsfeld von Leben und Tod, von Eros und Thanatos.

Das Bewußtsein der Doppelwertigkeit aller organischer Erscheinungsformen bestimmt auch die anderen Arbeiten von Michael Lukas. Kraftvoll, mit gestischer Intensität, in leuchtender Akzentuierung der Farben, sind die Gemälde komponiert. Mehrschichtige Übermalung verdichtet die Form-Farbtextur des Bildes, schafft dynamische Kontraste aus blockhaften Farbzonen, denen lineare, rhythmisch gesetzte Gegenimpulse antworten. Figürliche Elemente tauchen in den Bildern höchstens in assoziativer Annäherung auf. So sind Dach- und Hausformen zu erkennen, Kreise und unregelmäßige Vielecke ebenso wie die organischen Formen von Körperteilen oder der Umriß eines Kopfes.

Jegliches Fließen des Malstroms erscheint jedoch gebremst, gebändigt. So kann zum Beispiel ein starrer dunkler Farbbalken entlang der Außenkante die Farblandschaft eines Gemäldes begrenzen, oder es kann – in folgender Steigerung – ein Gemälde zum „Diptychon“ werden, in dem Farbe, Licht, Malfluß in dezidierten Kontrast gesetzt sind zur dunkel strukturierten, verhalten konturierten Fläche aus Asphaltlack mit applizierten konstruktiven Verklebungen und Aufleimungen aus Karton und Holz. So betont Lukas einerseits Gegengewichte provoziert, so differenziert balanciert er sie gegeneinander aus, stets bemüht, die ambivalente Wertigkeit der Pole von Ruhe und Dynamik, Nähe und Distanz, Öffnung und Zurücknahme, zu vermitteln. Die Standorte befinden sich in schwebender Balance, bedingen und durchdringen einander.

In den jüngsten Arbeiten entfaltet sich das Stilprinzip der „Harmonie der Widersprüche“ noch prägnanter. Reliefs aus roh zusammengefügten, von Asphaltlack geschwärzten Holzbalken überlagern die Gemälde mit ihrem kantigschroffen, rissigen Gewebe. Über das Bild in den Raum hinausgreifend, vereinnahmen sie es, unterwerfen es ihrem System und vergrößern, verlängern es gleichzeitig, binden es in die Umgebung ein, potenzieren seine Aura. Sie unterstreichen den Aufbau des Gemäldes, dessen Spannungszonen aus Helldunkel, Linien- und Flächenkontrasten, aber sie unterbrechen diese auch: mittels der Autorität der Eigengesetzlichkeit.

Ein weiteres Mal beweist sie die Macht der Ambivalenz beim Durchblättern eines Buchobjekts von Lukas. Zwischen zwei grobe Holzdeckel gepreßt, mit Hanfseilen verschnürt, weist es die Neugier ab und verstärkt sie gleichzeitig. Seine Innenblätter, die paarweise gelesen werden, erschließen sich als intime, tagebuchartige, gemalte Meditationen. Festgelegt sind nur die Anfangs- und Endseiten, die Reihenfolge der übrigen Blätter ist variabel. Fein schraffierte und zart kolorierte Seiten sind heftig bearbeiteten, geritzten, gekerbten und gegerbten , dunkelfarbig nuancierten gegenübergestellt; flüchtige Improvisation und ausgefeilte Bildchoreographie begegnen einander. Immer wieder tauchen unter den Farbschichten Zeichen hervor, Bruchstücke einer von Lukas entwickelten, nur für ihn entzifferbaren Lautschrift. Innerhalb der anderen Arbeiten nimmt dieses Werk eine Sonderstellung ein, nicht allein durch sein kleines Format. Es absorbiert den Raum, zentriert ihn in sich anstatt ex-zentrisch aus ihm auszubrechen, ihn mittels Farbe, Leinwand und Materialobjekten sprengen zu wollen. Das Buch von Lukas mag vorwärts oder rückwärts, langsam oder schnell, kontinuierlich oder abrupt erkundet werden; dies ist nicht entscheidend. Es muß jedoch begriffen werden als ein Brevier der Ambivalenz.

Katalogbeitrag zur Debutanten-Ausstellung „Michael Lukas“
Akademie der Bildenden Künste München, 1986

RÄUME UND ZEICHEN – ANNÄHERUNG AN DIE EXPERIMENTELLEN FORMPRINZIPIEN VON MICHAEL LUKAS

Räume verschwinden und entstehen. Eine Ruine erhält ihren Schrecken zurück, ein Farbraster zerstückelt einen Körper und setzt diesen und sich selbst neu zusammen, Formen treten aus der Ebene heraus, materialisieren sich und kehren wieder zurück, eine massive Glocke steht da und doch nicht, das Ansehen einer Folie wird zum Durchsehen.
Die Arbeiten von Lukas sind keine Gestaltungen und Formung in einem faktischen Raumkontinuum, die Raum auf Materialität und Gegenständlichkeit verengen. Lukas entdeckt, verschachtelt, potenziert Räume – nicht ‚den Raum‘ – als Gestaltprozess eine unabschließbaren Sehens.
Am Buchobjekt inszeniert sich dieser Sehakt paradigmatisch: 124 Zeichnungen zwängen sich in den schmalen Raum zwischen zwei fest verschnürte hölzerne Buchdeckel. Das Auge befreit das Werk aus seiner Verschlossenheit und eröffnet die darin ruhende explosive Kraft. Nicht nur die Kunst ringt in diesem Buch um Überleben.

Wolfgang Schäffner